Herr Dr. Passameras, gibt es zwischen den Abverkäufen in den Börsen und der Massenpanik vor dem Corona-Virus einen Zusammenhang? Wie sehen die zugrunde liegenden Mechanismen aus?
Die Wahrnehmung einer Gefahrensituation geht biologisch mit einer Stressreaktion einher. Innerhalb weniger Sekunden werden in den Mandelkernen, die Teil des limbischen Systems sind, Neurotransmitter freigesetzt. Diese während der Evolution gut trainierten und altbewährten Gehirnteile finden sich auch in der Tierwelt und sichern instinkthaft das Überleben. Zur Arterhaltung darf diese biologische Alarmanlage auch falschen Alarm geben. Hauptsache, wir werden einmal zu viel als zu wenig gewarnt. Wir beobachten aber nicht nur mögliche Gefahren, sondern auch das Verhalten unserer Mitwelt. Lernen am Modell erfolgt, wenn wir die Reaktionen Dritter auswerten, imitieren und unsere Risikoeinschätzung anpassen.
Dabei sind unsere gegenüber der Tierwelt ausgeprägteren empathischen Fähigkeiten keineswegs nur zweckmäßig. Nicht nur Lachen, Gähnen oder Kratzen können anstecken, sondern auch Befürchtungen, Sorgen oder Ängste. In besonderen Fällen können selbst wahnhafte Ideen übernommen und als real eingeschätzt werden. In der Psychiatrie wird dies als induzierter Wahn beschrieben (Arenz & Stippel, 1999). Unsere Schwarmintelligenz ist demnach anfällig für Fehler. Publiziert wurde eine Abiturfeier, bei der es nach anfänglich drei Verdachtsfällen auf eine unklare Vergiftung durch Massenhysterie zu 48 Behandlungen und 32 Krankenhauseinweisungen kam (Kahnenbley und andere, 2017). Andere Ursachen konnten durch zahlreiche laborchemische und toxikologische Untersuchungen ausgeschlossen werden.
Innerhalb von Massenbewegungen kann es zu hysterischen Verhaltensmustern kommen. In der Gruppe können Gefühle von Macht und Ohnmacht ausgelebt werden, die das jeweilige Individuum nur eingeschränkt durch die eigene Vernunft kontrolliert. Es kann in der Gruppe zu unbewussten Inszenierungen kommen (Mentzos, 2012). Bei einem außergewöhnlichen Konzerterlebnis können sich die Grenzen des Individuums auflockern. Identifikation und Verschmelzung mit dem Gruppenerleben können dazu führen, dass wir uns als Teil eines besonderen Ganzen erleben. Unser Selbsterhaltungstrieb schlägt Purzelbäume und wir sind zumindest für eine Zeit lang und in der Illusion unsterblich. Im Abverkauf der Börse und in der Gruppe der zukünftig Corona-Infizierten übernimmt Thanatos, der Todestrieb, das Kommando. Jetzt scheint das Lied „Es ist zum Verzweifeln und wir sterben alle“ zu heißen. Die höheren kognitiven Funktionen, die uns von den meisten Tieren unterscheiden, liegen in der Großhirnrinde. Sie geben uns zu verstehen, dass wir nur in der Illusion des Konzertumfeldes unsterblich sind und wir sehr wahrscheinlich auch nicht durch Corona sterben werden.
Ein Gastbeitrag von Dr. med. Konstantin Passameras, niedergelassener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Publizist (»Konfliktmanagement«, Carl Hanser Fachbuchverlag) für #7t7n – sieben Tage – sieben Nachrichten (246. Ausgabe).
Quellen: Arenz, D., & Stippel, A. (1999). Induziertes Irresein, Folie à deux und gemeinsame psychotische Störung. Fortschritte der Neurologie· Psychiatrie, 67(06), 249-255.
Kahnenbley, S., Andresen-Streichert, H., Stuhr, M., Kappus, S., Oh, J., Henne, T., … & Püschel, K. (2017). Massenanfall von Verletzten oder Massenhysterie? Intoxikationsverdacht bei 48 erkrankten Gymnasiasten. Der Notarzt, 33(02), 63-67.
Mentzos, S. (2012). Hysterie: zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen. Vandenhoeck & Ruprecht.