Ein Gastbeitrag von Thomas Thelen
Triage – ein furchterregender Begriff aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin macht Karriere. Es geht um die Überlebensentscheidende Auswahl und Entscheidung durch ein Ärzteteam, welcher Patient welche Therapiechancen hat und dementsprechend behandelt wird – oder eben nicht.
Doch in der Krise benötigen wir nicht nur in der Gesundheitsversorgung eine solche Debatte harter Entscheidungsstrukturen und ethischer Maßstäbe, sondern auch für die Verteilung und Ausgabe der vielen Hundert Milliarden Hilfs- und Fördergelder, wenn wir nicht die Fehler der Vergangenheit in eine ungewöhnlich unsichere Zukunft verlängern wollen.
Prä-Corona
Diese Entscheidungsfindung allein den kreditgebenden Geschäftsbanken zu überlassen, ist undemokratisch und vor allem politisch und strategisch unklug, denn es geht um nichts weniger als um die künftige Struktur unserer Volkswirtschaft. Die Entscheidung vor allem auf Basis von Zahlen von gestern, »Prä-Corona«, über eine Zukunft »Post-Corona« ohne Einbezug eines gesellschaftlich angestrebten Zukunftsentwurfes ist völlig unzureichend und setzt viele Milliarden nicht zielführend ein.
Die wichtigste Kenngröße für die Vergabe von Fremdkapital durch die Kreditwirtschaft ist die Kapitaldienstfähigkeit des Darlehensempfängers. Diese aber wird bewertet auf Basis von Zahlen der Vergangenheit, einer strahlenden Vergangenheit, die von einem Jahrzehnt boomender Konjunktur und Niedrigstzinsen geprägt war – tempi passati! Das erscheint mir so wie autonomes Fahren mit einem Navigationssystem, das auf einem 300 Jahre alten Stadtplan basiert…
Stattdessen benötigen wir – trotz des erheblichen Zeitdrucks – in der Öffentlichkeit und der Politik eine breite Debatte mit innovativen Impulsen von Experten aus den Bereichen Volks- und Betriebswirtschaft, Stadtplanung, Soziologie und Zukunftsforschung und anderen darüber, wie sich die Weltwirtschaft verändern wird und wie unsere Volkswirtschaft darin ihren Platz finden und behaupten kann. Nur dann können die Milliarden-Hilfspakete klug und zukunftsorientiert eingesetzt werden.
Zukunftsfragen
Wie wird sich der Tourismus Post-Corona entwickeln? Sind Milliarden in die Luftfahrt, Massentourismus-Anbieter, Hotellerie oder die Kreuzfahrtindustrie volkswirtschaftlich klug investiert?
Wie wird sich die Event-, Messe- und Ausstellungsindustrie Post-Corona verändern? Sind statt Investitionen in den Bestand nicht Investitionen in innovative digitale und dezentrale Plattformen klüger?
Was geschieht mit unseren Innenstädten, wenn Post-Corona viele Einkaufstempel und kleine Läden nicht mehr ihre Pforten öffnen können?
Welche Produkte und Dienstleistungen wollen wir künftig nicht nur auf dem Weltmarkt einkaufen, sondern auf jeden Fall zumindest eine strategische Reserve vor Ort produzieren? Welche Industrien und Produktionen müssen dafür gegebenenfalls neu aufgebaut werden?
Systemrelevanz
Neben der Kapitaldienstfähigkeit muss eine politisch und gesellschaftlich definierte Komponente »Systemrelevanz« in die Entscheidungsfindung mit einfließen – definiert nicht vor dem Hintergrund der Vergangenheit, sondern auf Basis einer Debatte über die gewollte und wahrscheinliche Zukunft der Wirtschaft (Beispiel: Ein mittelständischer Atemmasken-Hersteller, der zu nicht wettbewerbsfähigen Kosten in Europa produziert, wäre 2019 definitiv und scheinbar gut begründet anders bewertet worden als im Frühjahr 2020…).
Deutschland ist für diese Herausforderungen gut aufgestellt, aber wir müssen das offene Zeitfenster jetzt nutzen. Wir haben »Geld ohne Ende«, hervorragende Regierungen und Verwaltungen, eine starke Wirtschaft und mit der Transformation im Zuge der Wiedervereinigung und Institutionen wie der Treuhand einen Erfahrungsschatz von Fehlern und Erfolgen.
Aber die Debatte muss geführt werden: Jetzt!
Thomas Thelen ist ein freier PR Consultant und Berater bei LHG-Partners.